Jugendgewalt/Jugendkriminalität
als sozialpathologische
Erscheinungsform im
postfordistischen Kapitalismus

Hartmut Krauss

Seit Anfang der neunziger Jahre wird in den deutschen Medien und der Öffentlichkeit eine auffällige Zunahme anomischer Verhaltensweisen von Jugendlichen konstatiert. Zwar ist durchaus davon auszugehen, daß aufgrund des "marktwirtschaftlichen" Kampfes um hohe Auflagen und Einschaltquoten spektakuläre Einzelfälle als "Sensation" herausgegriffen, in ihrer Bedeutung hypertrophiert und auf seiten der Rezipienten "überverallgemeinert" werden. Dennoch spricht einiges für ein faktisches Wachstum sozialpathologischer Erscheinungen unter Jugendlichen:

Der Übergang vom "fordistischen" zum "postfordistischen" Regulierungsmodell der kapitalistischen Systemreproduktion

Die fordistische Regulationsform bildete sich als profit- und herrschaftssichernde strategische Antwort des Kapitals auf seine allgemeine Verwertungskrise heraus, wie sie insbesondere in den weltwirtschaftlichen Turbulenzen der 30er Jahre offen zutage trat. Als Brennpunkt dieser Krisenentwicklung erwies sich die Zuspitzung des Widerspruchs zwischen rasch wachsender Produktivkraftsteigerung (auf Basis fossiler Energiegewinnung und sich zunehmend verwissenschaftlichender Arbeitsorganisation) und stagnierender Massenkaufkraft. Ein erster Ansatz zur Überwindung dieser verwertungsrelevanten Diskrepanzen war der sog. "New Deal" der Roosevelt-Ära in den USA.Vermittes eines Bündels sozialpolitischer Maßnahmen sollte die Schere zwischen dem sich erweiternden Angebot von "Massenware" und der diesbezüglich beschränkten Nachfrage tendenziell überwunden werden. Ab 1945 folgte dann, begünstigt durch die nachkriegsbedingte Sonderkonjunktur und die hegemoniale Position der USA, die Übernahme des fordistischen Paradigmas in Westeuropa und Japan.

Als "Eckpfeiler" des fordistischen Regulationsmodells lassen sich folgende, die Lebensreproduktion der Individuen wesentlich beeinflussende Aspekte hervorheben:

1) Die sozialökonomische Basis bildet die Herstellung eines neuen volkswirtschaftlichen Gleichgewichts zwischen produktivitätsgestützter Ausdehnung der Massenproduktion von Konsumgütern, beträchtlich angehobenem Lohnniveau und Anstieg der Profitrate. Infolge dieses neuen Gleichgewichts tritt eine Periode relativer Vollbeschäftigung, hoher Wachstumsraten, verbesserter Lebenschancen der Lohnabhängigen bei gleichzeitig verbesserten Profitbedingungen des Kapitals ein.

2) Aufgrund der produktivitätsgestüzten Anhebung des Lohnniveaus gelingt dem Kapital ein zugleich gewinnbringender und herrschaftstabilisierender "Doppelschlag". Einerseits werden der Bereich der Arbeitskräftereproduktion (Essen, Wohnen, Freizeit, Unterhaltung, Reisen, Gesundheit, Körperpflege, Bildung etc.) als neue kapitalistische Anlage- und Verwertungssphäre"erobert" und als "Kehrseite" zahlreiche traditionelle (subsistenz- und "erganzungswirtschaftliche" (Re-)Produktionsformen zurückgedrängt; andererseits wird damit zugleich die "Loyalitätsbindung" der Lohnabhängigen an das kapitalistische System entscheidend abgesichert (materielle Effektivierung der Systemintegration).

3) Vor dem Hintergrund von relativer Vollbeschäftigung, konstanten Wachstumsraten, hohem Lohnniveau und noch höheren Gewinnen etabliert sich der keynesianistische Wohlfahrtsstaat. Zum Kernaspekt dieses Staatswesens wurde. die tarifvertragliche und sozialrechtliche Normierung und Regulierung der Arbeits- und Einkommensverhältnisse sowie der lohnarbeitstypischen Existenzrisiken. In diesem Kontext wurde nicht nur das Gefüge der sozialreformistischen "Arbeitnehmerorganisationen gestärkt, sondern darüberhinaus ein sozialbürokratischer Apparat mit spezifischen klientelistischen Strukturen, Verbindungen und Pfründen geschaffen.

4) Auf der Grundlage der Kombination von keynesianischer Wirtschaftspolitik und extensivem Wachstum etablierte sich der fordistische Klassenkompromiß, d.h. das sozialpartnerschaftliche Zusammenwirken von staatlicher Administration, Kapitalverbänden und Gewerkschaften/"Arbeitnehmerorganisationen". Angesichts von Vollbeschäftigung, korreliertem Profit- und Lohnanstieg sowie staatlicher Sozial- und Verteilungspolitik wurde der historisch gewachsene Klassenkonflikt zwischen Kapital und Lohnarbeit sozialbürokratisch kleingearbeitet und weitgehend stillgelegt. Die sozialen Besitzstandsinteressen der vollbeschäftigten, sozialrechtlich abgesichterten und zu Teilhabern der konsumistischen Massenkultur aufgestiegenen Lohnabhängigen schienen im Rahmen des fordistischen Wachstumsmodells mit den Kapitalverwertungsinteressen dauerhaft harmonisierbar zu sein.

5) Als zentrale (weil überdauerungsfähige) Instanz des Fordismus entstand die "besitzindividualistisch-konsumistische Massenkultur des Habens" als zugleich ökonomisch, politisch (Systemanpassung via Verführung statt weltanschaulicher Legitimation, vgl. Baumann 1995) und soziokulturell relevantes Integrationsmedium des (post-)modernen Kapitalismus. Um angesichts der qualitativ gesteigerten Massenproduktion von Konsumwaren den salto mortale. der Bewährung auf dem Markt erfolgreich zu überstehen, sind die Einzelkapitale gezwungen, den Interessengegensatz von Tauschwertstandpunkt (des Produzenten) und Gebrauchswertstandpunkt (des Käufers) in Gestalt der Kreation von ästhetischen Gebrauchswertversprechen auf verwertungsfunktionale Weise zu lösen. Infolgedessen bildet sich die Sphäre einer glitzernden warenästhetischen Scheinwelt der Mode und Werbung heraus, die sich auf subtile Art in die Bedürfnisstruktur der Konsumenten einklinkt und Sinnlichkeit und Identität nachhaltig formiert. Mit der Etablierung der fordistischen Konsumgesellschaft löst sich das traditionelle, noch vorindustriell geprägte, Sparsamkeitsparadigma (vgl. Andersen 1996) bzw. der "Notwendigkeitshabitus" (Bourdieu) auch innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen allmählich auf und es findet eine gesamtgesellschaftliche Ausdehnung besitzindividualistisch-konsumistischer Verhaltens-, Erlebnis- und Identitätsformen statt. Die "Kultur des Habens" avanciert zum Ensemble von Distinktionsmitteln, mit deren Hilfe man sich als "Sieger" in der risikoreichen kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft präsentiert bzw. symbolisch von den "Verlierern" abgrenzt. Diesem Erfolg der besitzindividualistischen Wertekultur liegt das warenästhetisch fundierte Deutungsangebot zugrunde, daß sich "Persönlichkeit" bzw. personale Identität als eine Kombination von Sacheigenschaften käuflich erwerben ließe. Hervorzuheben ist nun, daß vor dem Hintergrund von konstantem Wirtschaftswachstum, kontinuierlichem Lohnanstieg und Vollbeschäftigung die vorübergehende Leistungsfähigkeit des fordistischen Wohlfahrtsstaates darin bestand, quasi jedermann eine - wenn auch hierarchisch gestufte - Teilhabe an der konsumistischen Massenkultur zu gewährleisten. (Freilich nur um den Preis wachsender Naturzerstörung und gestützt auf die neokolonialistische Ausplünderung der kapitalistischen Peripherie.)

In dem Moment, als Mitte der siebziger Jahre die Krise der fordistischen Reproduktionsform aufgrund nachlassender Kapitalrentabiltät einsetzte und sich in Gestalt von "Nullwachstum" (Stagflation), erneut aufbrechender Massenarbeitslosigkeit und einem radikalen Wandel der Kapitalverwertungsstrategien manifestierte, kündigte sich erneut ein gesamtgesellschaftlicher Paradigmenwechsel an. "Die enge Verbindung von Massenkonsum, Sozialstaat und Akkumulation, die das 'Goldene Zeitalter' des Fordismus gekennzeichnet hatte, zerbrach" (Hirsch 1995, S.84). Politisch-ideologisch begleitet wurde dieser Prozeß vom Niedergang sozialdemokratisch-reformistischer Hegemonie und dem Aufstieg neokonservativer, neoliberaler und marktradikaler Konzepte.

Als Knotenpunkte dieses sich neu etablierenden "postfordistischen" Regulierungsmodells lassen sich die folgenden "kapitalstrategischen" Tendenzen anführen:

a) Gestützt auf den arbeits-und materialsparenden Einsatz der neuen Datenverarbeitungs- und Informationstechnologien (mikroelektonische Rationalisierungswelle) wurde und wird eine strukturelle Senkung der Lohnkosten anvisiert und gleichzeitig eine Verdichtung und Beschleunigung der kapitalnotwendigen Kommunikations- und Aktionsprozesse erreicht (Globalisierung der Produktion, Distribution, Zirkulation und Konsumtion).

b) Um die neuen technologischen Möglichkeiten zur Restabilisierung der Kapitalverwertung voll auszuschöpfen, bedarf es der Eliminierung mobilitäts-, auslastungs- und flexibilitätsbehindernder sozialrechtlicher und tarifvertraglicher Normierungen zwecks Durchsetzung einer verwertungsoptimalen Arbeitsorganisation. Entsprechend entfachten die dominierenden (multinational agierenden) Großunternehmen eine sog. "Deregulierungsoffensive" mit dem Ziel der weitestgehenden "Beschneidung" sozialstaatlicher Festlegungen und installierten neue betriebliche Arbeits- und Managementmethoden (Toyotismus, lean production, lean mangement etc.).

c) Nicht mehr der von den nationalen Arbeitseinkommen abhängige Binnenmarkt ist die entscheidende Orientierungsgröße, sondern die verstärkte Ausrichtung auf die Eroberung von Weltmarktanteilen - und somit der Übergang zur Exportorientierung - wird zur strategischen Richtschnur. Entsprechend verändert sich auch die kapitalistische Erwartungshaltung gegenüber dem Staat: Dieser soll nicht primär die Binnennachfrage mittels keynesianischer Methoden stimulieren, sondern die Behauptungs- und Konkurrenzfähigkeit der weltmarktorientierten (Groß-)Kapitale mittels neoliberaler (kosten-senkender) "Standortpolitik" absichern (Übergang vom fordistischen/keynesianischen Wohlfahrtsstaat zum postfordistischen/neoliberalen Wettbewerbsstaat, vgl. Hirsch 1995).

Als hervorstechendes Merkmal des Übergangs vom "fordistischen" zum "postfordistischen" Regulierungsmodell ist nun folgender Tatbestand anzuführen: Während die sozialkohärente Balance zwischen Lohn- und Profitentwicklung zerbrach, an die Stelle von relativerVollbeschäftigung die chronische Massenarbeitslosigkeit getreten ist, der keynesianische Sozialstaat einem kontinuierlichen marktradikalen Abbaudruck ausgesetzt ist und der fordistische Klassenkompromiß aus den Fugen geriet (vgl. exemplarisch den "Rohrkrepierer" des "Bündnisses für Arbeit"), hat sich nur eine Instanz als überlebens- und phasenübergreifend verallgemeinerungsfähig erwiesen, nämlich die "besitzindividualistisch-konsumistische Massenkultur des Habens" als unverzichtbares Systemmerkmal des (post-)modernen Gegenwartskapitalismus.

Zum Wandel der individuellen Vergesellschaftungsbedingungen im "postfordistischen" Kapitalismus

Für die aktuelle Formierung der Lebenstätigkeit der "postfordistisch" vergesellschafteten Menschen wird nun folgende phasenspezifische Widerspruchsbeziehung relevant:

Einerseits hat vermittels der Ausdehnung und Effektivierung der massenmedialen und informationstechnologischen Durchdringung der Lebenswelt (Multiplikation privater Rundfunk- und Fernsehsender, Internet, Teleshopping und -banking etc.) sowie der Schaffung neuer Einkaufszentren die Faszinationskraft des Distinktions- und Kompensationskonsumismus auf alle Klassen und Schichten gegenüber dem fordistischen Initiationsstadium noch zugenommen. Andererseits ist infolge der für den Postfordismus kennzeichnenden sozialen Verwerfungen (chronische Massenarbeitslosigkeit, neue Armut, zunehmender Wettbewerb um "knappe Güter") eine verschärfte Ungleichverteilung der konsumtiven Zugangs- und Partizipationsmöglichkeiten sowie der daraus resultierenden Konsummuster zu konstatieren. "Während die einen nach wie vor und gegebenenfalls immer länger und intensiver arbeiten, um immer mehr und immer demonstrativer zu konsumieren, bleiben die anderen auf die Wahrnehmung von Billigangeboten der Massenindustrie verwiesen. Italienische Textil-Edelmoden und deren Imitationen aus China oder Hongkong ergänzen sich so auf's Beste" (Hirsch 1995, S.129). Was sich demnach im "Postfordismus" abspielt, ist die Etablierung einer neuen Bewegungsform der kapitalinhärenten Antinomie zwischen Mehrwertproduktion (implizites Interesse an niedrigen Löhnen) und Mehrwertrealisierung (implizites Interesse an kaufkräftiger Nachfrage). Ein Teil der Lohnabhängigen wird auf der Basis der Einführung neuer Technologien ("Rationalisierungsinvestitionen") dauerhaft aussortiert, vom Arbeitsmarkt verdrängt und dem öffentlich finanzierten Unterstüzungssystem überantwortet. Ein großer Teil der "fungierenden" Lohnabhängigen wird sozialrechtlich "flexibilisiert" und "dereguliert" (Erosion des "Normalarbeitsverhältnisses"). Ein noch recht großer Teil von unbefristet beschäftigten Lohnabhängigen ist im Besitz von sozialrechtlich gestützten Arbeitsplätzen mit relativ hohen Einkommen und entsprechenden konsumtiven Partizipationsmöglichkeiten. Während also eine größere Anzahl von Menschen nicht mehr als ProduzentInnen bzw. Besitzer von Arbeitsvermögen gefragt sind, interessiert sich das Kapital in verstärktem Maße für die Menschen in ihrer Eigenschaft als KonsumentInnen bzw. Träger kaufkräftiger Nachfrage. Indem die "postfordistisch" organisierte Gesellschaft einerseits in stets neuen Dimensionen warenästhetische Anreize setzt und die subjektiv erstrebenswerten konsumistischen Leitbilder und Identitätsformen kreiert, gleichzeitig aber eine größer werdende Zahl von Menschen aus dem System der Gewährleistung von Lebenschancen ausgrenzt bzw. an den Rand drängt, produziert sie zwangsläufig Delinquenz als eine Form der Verarbeitung des zugespitzten Widerspruchs zwischen Anreizung und Ausschließung.

Mit der Verfestigung der Massenarbeitslosigkeit, die zum sozialökonomischen Grundphänomen des "postfordistischen Kapitalismus geworden ist, geht seit Mitte der 70er Jahre eine gravierende Destabilisierung der individuellen Beschäftigungsverhältnisse einher. Das bedeutet für eine große Zahl von Menschen, daß im Unterschied zu früher ein kontinuierlicher Verlauf des Erwerbslebens und somit eine gewisse Stabilität in der sozialen Existenzweise zunehmend brüchig geworden ist. Ein zentraler Ausdruck dieser sozialexistenziellen Verunsicherungstendenz ist in der "Erosion des (männlichen) Normalarbeitsverhältnisses" zu sehen. Kennzeichnend für dieses "Normalarbeitsverhältnis" ist "ein Arbeitsverhältnis in Form einer arbeits- und sozialrechtlich abgesicherten, im Einklang mit tarifrechtlichen Vereinbarungen stehende, kontinuierliche, auf Dauer angelegte Vollzeitbeschäftigung, die es erlaubt, über einen hinreichenden Lohn die Reproduktion zu sichern, ohne daß während der Beschäftigungszeit finanzielle Leistungen des Familien- bzw. Haushaltsverbundes und/oder existenzsichernde Transferzahlungen des Staates in Anspruch genommen werden müssen" (Osterland 1990, S.351). Infolge der postfordistischen Arbeitsmarktkrise hat sich mittlerweile nun eine Vielzahl von neuen, "prekären" Arbeitsverhältnissen herausgebildet, die im Grauzonenbereich zwischen "Normalarbeitsverhältnis" und Arbeitslosigkeit angesiedelt sind (befristete Beschäftigung, Teilzeitarbeit, "Arbeit auf Abruf", Leiharbeit, subventionierte ABM-Jobs, Scheinselbständigkeit etc.).

Aufgrund dieser "Erosion des Normalarbeitsverhältnisses" sowie der damit verbundenen Labilisierung lebensgeschichtlicher Kontinuitätserwartungen und sozialer Zukunftsgewißheit ist subjektseitig - als Folge der Risikozunahme individueller Lebensführung - eine komplementäre "Erosion der Normalbiographie" festzustellen. Eine wesentliche Manifestationsform dieser sozialökonomisch vermittelten "Verkomplizierung" individueller Lebensführung ist in der seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre einsetzenden Dezentrierung der "fordistischen Standardfamilie" zu beobachten. D.h.: Obwohl noch viele Menschen in einer traditionell strukturierten Familie leben, hat die Tendenz zur Ausdifferenzierung privater Lebensformen rapide zugenommen:

a) So steigt die Zahl kinderloser Ehepaare . "In über der Hälfte aller Ehen werden heute entweder kein oder nur noch ein Kind geboren. In (West-)deutschland gebären 100 Frauen nur noch 129 Kinder, womit sich die Zahl der jährlich Lebendgeborenen seit Mitte der 60er Jahre halbiert hat" (Rerrich 1993a, S.116).

b) Auch infoge einer "explosiven" Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften sind nur noch ca. ein Drittel aller westdeutschen Haushalte als Familienhaushalte im Sinne einer Eltern-Kind-Einheit zu bezeichnen.

c) Nach einer langfristigen Zunahme der Scheidungsziffer wird heute ca. jede dritte bis vierte Ehe geschieden. Von ca. jeder zweiten Scheidung sind Kinder betroffen.

d) Die Zahl der Alleinerziehenden (zumeist Mütter) hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Anfang der 90er Jahre lebte jedes achte Kind in Westdeutschland in einer Ein-Eltern-Familie. Zudem wächst die Zahl der Stieffamilien.

e) Die außerhäusliche Erwerbsarbeit von verheirateten Müttern hat sich in den Jahrzehnten von 1950 bis 1980 fast verdoppelt.

Interessant ist in diesem Kontext auch die Aufteilung des Armutsrisikos zwischen Kindern, differenziert nach Lebensformen: "Während der Anteil der Kinder von Alleinerziehenden, die unter der Armutsgrenze leben, von 25,4 Prozent im Jahr 1990 auf 36,3 Prozent im Jahr 1993 angestiegen ist, hat sich das Armutsrisiko der Kinder,die mit ihren verheirateten Eltern gemeinsam aufwachsen, nicht erhöht und bleibt unter 10 Prozent. Das Armutsrisiko von Kindern in nichtehelichen Lebensgemeinschaften ist von 1990 bis 1993 sogar leicht gesunken (von 19,6 auf 16,3 Prozent)" (Nauck/Meyer/Joos 1996, S.17).

Als Folgewirkung der sozialökonomisch bedingten Verkomplizierung der Lebensführung erhöht sich auch - neben der Diversifikation der privaten Lebensformen - der Anforderungsdruck bezüglich der gemeinsamen Bewältigung des familialen Alltagslebens. So wird z.B. angesichts der divergierenden institutionellen Zeitregime, denen die Familienmitglieder ausgesetzt sind, die Integration der einzelnen Lebensführungen zu einer gemeinsamen Lebensführung zu einer anspruchsvollen und spannungsgeladenen Aufgabe. "Die Zeitregelungen von Kindergarten und Schule, die beruflichen Gegebenheiten von Mann und Frau, die Öffnungszeiten der Geschäfte, die Verfügbarkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln sind nur einige Beispiele für Faktoren, die nicht unabhängig voneinander wirksam werden, sondern eine komplexe, z.T. widersprüchliche Anforderungsstruktur darstellen" (Rerrich 1993b, S.311). Diese Problemkonstellation führt nun vielfach zu einer Überlastung von berufstätigen Frauen in ihrer Rolle als "Hauptmanagerinnen" eines gemeinsamen Familienalltags, nämlich dann, wenn a) "eine Modernisierung patriarchaler Strukturen durch eine (hierarchische, H.K.) Umschichtung von familialer Arbeit zwischen Frauen" (ebenda, S.330) in Form der Beschäftigung von Kindermädchen, Tagesmüttern, Putzfrauen, Haushälterinnen etc. aus finanziellen Gründen ausscheidet und b) auf die klassische "Lösung Großmutter" nicht zurückgegriffen werden kann.

Für den individuellen Vergesellschaftungsprozeß eines nicht unbeträchtlichen Teils der nachwachsenden Kinder und Jugendlichen haben die gewandelten Formen der privaten Lebensreproduktion einschneidende Konsequenzen: Im Kontext von kleinen (oftmals "unvollständigen") Familien mit nur einem Kind, in der beide Elternteile arbeiten und Geschwister sowie Großeltern nicht vorhanden sind, ist eine auffällige "Ausdünnung" von Sozialkontakten sowie eine Reduzierung der Eltern-Kind-Interaktion auszumachen. Hinzu kommt oftmals ein Wohnumfeld, in dem keine gleichaltrigen Kinder anzutreffen sind und somit spontane/unmittelbare (Spiel-)Kontakte nicht entstehen können. Nur in Mittelschicht-Familien mit entsprechenden Ressourcen gelingt es dann, das Kind in institutionalisierte Freizeitaktivitäten "nach Terminkalender" einzubringen (Sportvereine, Ballett- und Musikunterricht etc.). Vielfach wird die relative sozialkommunikative Deprivation, die u.a. dazu geführt hat, daß heute jedes vierte Kind im Alter zwischen vier und sechs Jahren in seinem Spracherwerb zurückgeblieben ist, durch eine Überversorgung mit Dingen (Spielzeug, Nahrung, Kleidung) kompensiert. Zu beachten ist auch, daß durch den generellen Verlust an direkten sozialen Erfahrungen die Möglichkeit der Kinder reduziert wird, sich in die Lage von Opfern einer aggressiven Handlung zu versetzen (vgl. Petermann 1997). An die Stelle sprachlicher, gegenständlicher und normativer Eltern-Kind-Koordination ist so zunehmend das Fernsehen als "substituierender Sozialisator" getreten. Von Bedeutung ist hier vielleicht weniger die imitationsfördernde Setzung von gewaltförmigen Verhaltenmodellen, als vielmehr die warenästhetisch-konsumistische Durchdringung bereits des kindlichen Lebensalltags. Längst sind Kinder als relevante Zielgruppe der Programm-Macher und Werbefachleute "entdeckt"worden. So wird die Vertreterin einer amerikanischen Werbeagentur mit dem aufschlußreichen Satz zitiert: "Du mußt die Kids den ganzen Tag erreichen. Du mußt zu einem festen Bestandteil ihres alltäglichen Lebens werden" (zit. n. Jäckel 1997, S.10). Es geht folglich um die frühe Zurichtung der jungen Konsumenten, die auch schon als kompetente Nachfrager eingestuft werden. "Diese Produktkompetenz wird mittlerweile in sogenannten 'Kids Verbraucher Analysen" dokumentiert, um den Nachweis führen zu können, daß, so Volker Nickel vom Zentralverband der Werbewirtschaft, die 'Welt der Waren (...) schon in jungen Jahren differenziert erlebt und selbstsicher beurteilt (wird). Bestimmte Marken sind bereits bei den Sechs- und Siebenjährigen positiv und vor allem auch negativ verankert'"(ebenda). Angesichts dieser ausgeklügelten Optimierung der Faszinationskraft einer kinder- und jugendgerechten Werbung sollte man die gegenläufig mahnende Energie der vom Alltagssteß geplagten Eltern nicht überschätzen. Für die Etablierung von Jugendkulturen sind die Massenmedien längst zum Multiplikator und "Vernetzer" ästhetischer Muster der szenetypischen Selbstinszenierung und Lebensgestaltung geworden.

Von herausragender Bedeutung für die individuelle Vergesellschaftung im "postfordistischen" Kapitalismus ist zum anderen die radikale Renaissance der konkurrenzkapitalistischen Grundwerte. Mit dem Abstreifen der fordistischen Fesseln der Sozialpartnerschaft, der Privatisierung öffentlicher Dienst- und Versorgungsleistungen, der pauschalen Diffamierung sozialer Solidarbeziehungen als prinzipiell "leistungsbehindernd", der Propagierung des Leitbildes des "modernen" Menschen als individualistischer "Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge" (Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen) etc. geht die teils offene, teils verdeckte Idealisierung des selbstsüchtigen, durchsetzungsfähigen, im kapitalistischen Leistungswettbewerb siegreichen Individuums einher. Die zufallsgebunden-anarchistische Selektion im Prozeß des chaotischen Marktgeschehens im entfesselten "Risikokapitalismus" soll so im nachhinein zurechenbar als "personale" Fähigkeit legitimiert werden. Darin besteht der ganz und gar prämoderne Mythos der bürgerlich-kapitalistischen Systemapologetik. In dem Maße aber, wie diese herrschende "Konkurrenzmoral" auch von den Beherrschten als angebotenes "Bewährungsprinzip" übernommen wird, avanciert das Streben nach Anerkennung und die damit verbundene "Pflege des Selbstbewußtseins" zu einem sozialpsychologisch wirksamen Grundregulativ. Sowohl die elterliche Unterstützung der "sozialabstrakten" kindlichen Selbstbehauptungsfähigkeit, die schulische Einübung in die kapitalistische Leistungsgesellschaft (vgl. Holzkamp 1993) als auch die narzißmusfördernden Leitbilder und Nuzungsmöglichkeiten der Medien, verfestigen letzendlich auf "synergetische" Weise den soziokulturellen Leitwert des Spätkapitalismus: konsumistische Symbolisierung des erfolgreichen Bestehens im (leistungsideologisch verklärten) Konkurrenzkampf der Marktagenten. Die systembedingt-naturwüchsige Förderung einer konkurrenzmoralisch-"egomanischen" Subjektivität der Heranwachsenden durch Elternhaus, Schule und Medien führt dazu, "erstens jedes Urteil über die eigene Person ganz vom Vergleich mit anderen abhängig zu machen; dabei zweitens die Frage der eigenen Befindlichkeit ganz in die Anerkennung zu verlagern, die man von anderen erfährt, und schließlich drittens das Leben über weite Strecken ganz danach auszurichten, daß man sich als anerkennungswürdiges Individuum präsentiert (Huisken 1996, S.29).

Vor diesem sozialökonomischen und soziokulturellen Hintergrund läßt sich Jugendgewalt/-kriminalität als Anomisierung des systemtypischen Strebens nach Anerkennung im Falle der Blockierung systemkonformer Partizipationschancen, also aus dem Status realer oder antizipierter Desintegration heraus, dechiffrieren. D.h.: Gerade die Identifikation mit den Zielvorgaben und Werten der herrschenden Leistungs- und Erfolgskultur " kann abweichendes Verhalten in dem Maße erzeugen, in dem der wertgeschätzte Erfolg nicht auf konforme Weise, also mit legitimen, gesellschaftlich akzeptierten Mitteln, erreicht werden kann" (Engel, Hurrelmann 1993, S.242). Huisken (1996, S.51f.) hat diese Anomisierung des Anerkennungsstrebens bei Schulversagern lebensnah beschrieben: "Wieso soll einen Schüler, der mit der Schulkonkurrenz abgeschlossen hat, die Bestrafung mit einer Fünf oder Sechs denn 'jucken'?...So passiert es, daß Schüler, die vor die Tür geschickt werden ('time-out' heißt das jetzt), nicht um die Erlaubnis betteln, wieder am Unterricht teilnehmen zu dürfen, sondern zum nächsten Supermarkt marschieren, sich dort bargeldlos bedienen und dann in der Pause den Mitschülern vorzeigen, worauf es im Leben wirklich ankommt! Nein, nicht auf Teilname am stofflichen Reichtum, von dem sie als Schulverlierer lebenslang ziemlich ausgeschlossen sien werden, sondern auf die Gleichgültigkeit gegenüber Tabus und Strafen. Das macht den tollen Typ aus, dem man es abnimmt, wenn er dem Lehrer ankündigt, er werde ihm demnächst die 'Fresse polieren'. Als tolle Kerle und Mädels wollen sie gerade dadurch gelten, daß sie sich um Schule und Lehrer nicht scheren. Gegen das Schulprinzip machen sie ihre eigene Hierarchie auf, setzen sie mit Gewalt bei Mitschülern durch und scheuen sich auch nicht davon zurück, sich mit dem Lehrer körperlich zu messen, der die Ersetzung seiner Hierarchie durch ihre nicht dulden kann. Ihr Selbstbewußtsein lebt von der Anerkennung, die ihnen dabei durch ihre Mitschüler zuteil wird."

Literatur:

Andersen, Arne:Vom Industrialismus zum Konsumismus - Der Beginn einer neuen Phase der gesellschaftlichen Naturverhältnisse in den 1950er Jahren. In: Herman Behrens, Gerd Neumann, Andreas Schikora (Hg.): Wirtschaftsgeschichte und Umwelt - Hans Mottek zum Gedenken. Umweltgeschichte und Umweltzukunft III. Forum Wissenschaft Studien Bd.29, Marburg 1996, S.277-320.

Baumann, Zygmunt: Ansichten der Postmoderne, Hamburg, Berlin 1995.

Engel, Uwe, Hurrelmann, Klaus: Was Jugendliche wagen. Eine Längsschnittstudie über Drogenkonsum, Streßreaktionen und Delinquenz im Jugendalter, Weinheim und München 1993.

Hirsch, Joachim: Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapitalismus. Berlin - Amsterdam 1996.

Holzkamp, Klaus: Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt/New York 1993. Huisken, Freerk: Jugendgewalt. Der Kult des Selbstbewußtseins und seine unerwünschten Früchtchen, Hamburg 1996.

Jäckel, Michael: Wer trägt die Verantwortung? Zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. B 19-20/97, 2.Mai 1997, S.3-12.

Krauss, Hartmut: (Neo-)Faschismus und 'triumphierender' Kapitalismus. Wesensgehalt und subjektive Funktionalität (neo-)faschistischer Ideologie. In: HINTERGRUND. Marxistische Zeitschrift für Gesellschaftstheorie und Politik. Osnabrück II-92, S.35-48.

Leiprecht, Rudolf: "... da baut sich ja in uns ein Haß auf...". Zur subjektiven Funktionalität von Rassismus und Ethnozentrismus bei abhängig beschäftigten Jugendlichen. Hamburg; Berlin 1992.

Nauck, Bernhard, Meyer, Wolfgang, Joos, Magdalena: Sozialberichterstattung über Kinder in der Bundesrepublik Deutschland. Zielsetzungen, Forschungsstand und Perspektiven. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. B11/96, 8.März 1996, S.11-20.

Osterland, Martin: "Normalbiographie" und "Normalarbeitsverhältnis". In: Peter A.Berger, Stefan Hradil (Hrsg.): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile (Soziale Welt Sonderband 7). Göttingen 1990, S.351-363.

Petermann, Franz: Auswirkungen von Medien auf die Entstehung von Gewalt im Kindes- und Jugendalter. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament. B 19-20/97, 2.Mai 1997, S. 28-33.

Rerrich, Maria S.: Familie heute: Kontinuität oder Veränderung? In: Karin Jurczyk, Maria S.

Rerrich (Hrsg.): Die Arbeit des Alltags. Beiträge zu einer Soziologie der alltäglichen Lebensführung. Freiburg im Breisgau 1993a, S.112-132. Rerrich, Maria S.:Gemeinsame Lebensführung: Wie Berufstätige einen Alltag mit ihren Familien herstellen. In: Karin Jurczyk, Maria S. Rerrich (Hrsg.): Die Arbeit des Alltags. Beiträge zu einer Soziologie der alltäglichen Lebensführung. Freiburg im Breisgau 1993b, S.310-333.

Tillmann, Klaus: Gewalt an Schulen:öffentliche Diskussion und erziehungswissenschaftliche Forschung. In: Heinz Günter Holtappels, Wilhelm Heitmeyer, Wolfgang Melzer, Klaus-Jürgen Tillmann (Hrsg.): Forschung über Gewalt an Schulen. Erscheinungsformen und Ursachen, Konzepte und Prävention. Weinheim und München 1997, S.11-25.



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