Wiederkehr der Proletarität
oder Neustrukturierung sozialer
Ungleichheit? Sozialstruktur
und Subjektformierung im
"postfordistischen" Kapitalismus (Teil 1).

Hartmut Krauss

Der Zusammenbruch des "realen Sozialismus", die Auflösung des "Ostblocks" sowie der schmähliche Abgang der "marxistisch-leninistisch" drapierten osteuropäischen Machteliten (1989 - 1991) ist von der westlichen Triumphpropaganda umfassend und lautstark zelebriert worden. Im Rahmen einer mediengerecht inszenierten ideologischen Kampagne wurde - die vordergründige Evidenz des Augenblicks auskostend - das Ende der Geschichte beschworen und die kapitalistische Produktions- und Lebensweise als unüberbietbarer Höhepunkt menschlicher Vergesellschaftung ausgelobt. Dabei wurde und wird dieser triumphalistische Diskurs, gestüzt durch zahllose "anschlußfähige" Ereignisfragmente, Bilder, Metaphern, Schlagzeilen etc. im wesentlichen vermittels zweier einfacher Deutungsmuster konstruiert:

1) mit Hilfe der Gleichsetzung von Stalinismus, Sozialismus und Marxismus, wodurch der legitimatorische Mythos der niedergegangenen Regime unter umgekehrten (negativen) Vorzeichen im Kern tradiert wird;

2) durch sprachliche und bildhafte Eliminierung der kapitalistischen Systemwidersprüche: in Gestalt der "Sozialen Marktwirtschaft" erscheint lediglich die Konsum- und Lebensstilpluralität der "oberen Zweidrittel" des metropolitanen Kapitalismus unter Ausblendung a) der innneren sozialen Polarisierungs- und Degenerationstendenzen; b) der global destruktiven Folgewirkungen der Systemreproduktion und c) der sich verschärfenden Konflikte zwischen Metropole und Peripherie sowie zwischen den metropolitanen Zentren ( USA; EG; Japan).

I. Zur Widerspruchsstruktur des "postsozialistischen" Kapitalismus

So heftig und grell der ideologische Siegestaumel in den bürgerlichen Medien auch gestaltet wurde - mittlerweile hat die profane kapitalistische Krisenrealität die "westliche Öffentlichkeit" eingeholt und nachhaltige Schatten auf das gestern noch so farbenprächtige Triumphgemälde geworfen. Zunehmend deutlicher zeichnen sich inzwischen nämlich die Konturen der dynamischen Widerspruchs- und Krisenkonstellation des "postsozialistischen" Kapitalismus ab. Im einzelnen sind hier folgende Problemkomplexe anzuführen:

1. Die Auflösung des Systemgegensatzes und die damit verbundene Überwindung der Blockkonfrontation (Ende des "Kalten Krieges") hat keinesfalls eine neue Weltordnung des Friedens, der Harmonie und der Zivilität entstehen lassen, sondern offensichtlich eine komplizierte weltpolitische Konfliktstruktur heraufbeschoren, die im Vergleich zu früher aufgrund ihrer nun multipolaren Beschaffenheit teils andersartige, teils modifizierte Gefahrenquellen und Risiken enthält. Vertieft hat sich der Nord-Süd-Gegensatz1 bis hin zumilitärischer Konfrontation (Golfkrieg; Somaliaeinsatz); alte kriegerische Brandherde (z.B. Angola, Afghanistan, Kambodscha) bestehen fort und nehmen chronische Züge an; gewaltförmige ethnische, religiöse und soziokulturelle Konflikte eskalieren in unterschiedlichen Regionen (z.B. in Indien, Sri Lanka, Sudan, Algerien); der Zerfall des "realen Sozialismus" ist mit einer kaum für möglich gehaltenen Wiedergeburt nationalistischer Barbarei verbunden und impliziert - wie im Falle des ehemaligen Jugoslawiens und der ehemaligen UdSSR - die Tendenz zu Dauerkriegen. Die aufgrund der zunehmenden Verelendung des Südens und der vielfältig verstreuten kriegerischen Auseinandersetzungen potenzierten Migrationsbewegungen auf der Süd-Süd, Süd-Nord und Ost-West-Achse generieren ihrerseits wiederum eine eigenständige Problemdimension (Unterbringungs- und Versorgungsproblematik, Abschottungstendenzen, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit etc), die auch in mitten der kapitalistischen Zentren zunehmend an Brisanz gewinnnt. Angesichts dieser neuartigen internationalen Konfliktstruktur ist ein halbwegs greifbares politisches Krisenmanagement auf supranationaler Ebene nicht in Sicht. Die sich ausbreitende Option militärischer Gewaltanwendung als Mittel der Konfliktbewältigung hat deutlich zugenommen und eine risikoreiche Unübersichtlichkeit der internationalen Beziehungen bewirkt.

2. Die mit der Herausbildung, Festigung und Ausdehnung des bürgerlich-kapitalistischen Zivilisationsmodells hervorgerufenen "Globalen Probleme" haben heute ein Ausmaß und eine Qualitätsstufe erreicht, die eine ökologische Revolution unmittelbar als not-wendige Handlungsmaxime auf die Tagesordnung gesetzt haben. So heißt es z.B. im Worldwatsch Institute Report von 1992: "Der Aufbau einer ökologisch nachhaltigen Zukunft erfordert eine Umgestaltung der Weltwirtschaft, große Veränderungen des menschlichen Fortpflanzungsverhaltens und dramatische Änderungen der Werte und Lebensstile...Wenn diese ökologische Revolution Erfolg hat, wird sie als eine der großen ökonomischen und sozialen Umwandlungen der menschlichen Geschichte neben der landwirtschaften und der industriellen Revolution stehen" (Brown 1992, S.228).

Demgenüber besteht aber auch knapp zwei Jahre nach dem Umweltgipfel von Rio der dramatische Widerspruch zwischen Problemlösungsbedarf und Problemlösungskompetenz/-willen fort. Ausgerichtet am profitorientierten Widerstand der großkapitalistischen Unternehmen hintertreiben die politischen Entscheidungsträger in den Metropolen nach wie vor die Einleitung und Umsetzung durchgreifender Maßnahmen. Das betrifft nicht zuletzt die von Experten geforderte "Effizienzrevolution" bezüglich des Energieverbrauchs: "Eine Halbierung des Pro-Kopf-Energieverbrauchs in den Industrieländern - ohne eine Einbuße an Lebensstandard - ist technisch und wirtschaftlich möglich und für eine weltweite Klimaschutzpolitik eine conditio sine qua non" (Hennicke, Seifried 1992, S.26). Obwohl die Bundesregierung vor drei Jahren beschlossen hat, bis zum Jahre 2005 die deutschen Kohlendioxid-Emissionen gegenüber 1987 um 25 bis 30 Prozent zu senken, ist eine gezielte Inangriffnahme des deutschen Klimaschutzprogramms nicht in Sicht.

3. Mit dem Ende des Einigungsbooms (1990/1991) ist die allgemeine Marktwirtschafteuphorie a) der zyklischen Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Reproduktionsprozesses und b) dem wirtschaftlichen und finanziellen Desaster der deutschen Wiedervereinigung gewichen. So indizieren die ökonomischen Kennziffern eindrucksvoll die tiefste und ausgeprägteste Wirtschaftskrise seit dem Ende des zweiten Weltkriegs: Im September 1993 lag die Industrieproduktion Westdeutschlands um 6,4 Prozent unter dem Niveau des Vorjahres. "Das ist der größte Produktionsrückgang in der westdeutschen Nachkriegsentwicklung" (Kowalski 1994, S.229). 1993 ist die Zahl der Arbeitslosen um 700.000 angewachsen. Ca. sechs Millionen Arbeitsplätze fehlen in Deutschland. Nach der Wende sind in Ostdeutschland knapp vier Millionen der ehemals 9,7 Millionen regulären Arbeitsplätze abgebaut worden. Von den verbliebenen Erwerbstätigen in Ostdeutschland "arbeiteten ungefähr 540.000 als Pendler in Westdeutschland. Knapp 400.000 waren im Rahmen von ABM befristet beschäftigt, mehr als 500.000 arbeiteten kurz" (Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik 1992, S.18). Das ganze Ausmaß der systematischen Deindustrialisierung Ostdeutschlands spiegelt sich in dem Tatbestand, daß bei einem Anteil der gesamtdeutschen Bevölkerung von 19,4 Prozent die neuen Bundesländer Mitte 1993 nur 4,1 Prozent der gesamtdeutschen Industrieproduktion erreichten. Angesichts der krisenbedingten Nachfrage- und Steuerausfälle, der steigenden Allgemeinkosten der Massenarbeitslosigkeit sowie der langfristig anhaltenden Notwendigkeit von Transferzahlungen zur wirtschaftlichen und infrastrukturellen Renovierung der "neuen Bundesländer" wird sich der gesellschaftliche Druck der öffentlichen Verschuldung enorm erhöhen und massive (Lasten-) Verteilungskämpfe mit noch unklaren korporatistischen Frontstellungen auslösen.

4. Angesichts der sich sukzessive verdichtenden Verwertungsprobleme der Kapitalreproduktion ist mit der ökonomischen Rezession Mitte der siebziger Jahre die Krise des fordistischen Regulierungsmodells der entwickelten kapitalistischen Systeme offen zutage getreten. Ein zentraler Indikator dieser Krise ist in der Herausbildung der chronischen (vom zyklischen Wirtschaftsprozeß relativ unabhängigen) Massenarbeitslosigkeit zu sehen, die zum hervorstechenden sozialökonomischen Wesenszug des "postfordistischen Kapitalismus" avanciert ist. In Verbindung mit der neokonservativen Attacke gegen den Sozialstaat und die keynesianistische Form der Wirtschaftsregulierung wurde auf diese Weise - vor dem soziokulturellen Hintergrund der "fordistischen Konsum-, Werbe- und Mediengesellschaft" - die Sozialstruktur in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften erheblich polarisiert und damit die Ungleichverteilung von Lebenschancen zum Teil gravierend vertieft. So sieht z.B. der Gesetzentwurf für den Bundeshaushalt 1994 Einsparungen von rund 21 Milliarden DM vor, davon 16 Milliarden allein im Sozialbereich. Damit fungiert der staatliche Sozialabbau als eigenständiger Faktor im Prozeß der sozialstrukturellen Polarisierung und Kumulation von Unterversorgungslagen. Infolge dieser Verflechtung von chronischer Massenarbeitslosigkeit, staatlichem Sozialabbau und zyklischer Wirtschaftskrise hat sich in Deutschland mittlerweile ein beträchtliches Armutspotential entwickelt: Die Zahl der Sozialhilfebedürftigen hat zwischen 1980 und 1990 um über 76 Prozent zugenommen. Die Zahl der SozialhilfeempfängerInnen wird gegenwärtig auf 4,2 Millionen geschätzt; nicht eingerechnet jenen Anspruchsberechtigten, die keine Leistungen in Anspruch nehmen. "Geht man von einer gemeinsamen Armutsschwelle (50 Prozent des durchschnittlichen bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommens) für Ost- und Westdeutschland im Jahre 1992 aus, lebten 10,1 Prozent der Bevölkerung in Einkommensarmut. Lag derAnteil im Westen "nur" bei 7,5 Prozent, so betrug die Einkommensarmutsquote im Osten 14,8 Prozent" (Hanesch u.a.1994, S.35).

5. Die Reduktion von Sozialleistungen in Zeiten der ökonomischen Verflechtung von strukturellen und zyklischen Krisentendenzen bewirkt mit der Vertiefung der sozialstrukturellen Polarisierung zugleich die Eskalation von sozialen Pathologien: Steigende Kriminalität, wachsender Drogenkonsum, ausufernde Gewalttätigkeit und Brutalisierung der zwischenmenschlichen Verkehrsformen etc. gewinnen zunehmend an öffentlicher Brisanz im sozial entfesselten Risikokapitalismus. Die krisenbedingte Verknappung von elementaren, die individuellen Lebensmöglichkeiten grundlegend gewährleistenden und strukturierenden Ressourcen ( Arbeitsplätze; Einkommensquellen; Wohnungen etc.) kann nämlich in einer "schlanker" werdenden, zunehmend unberechenbareren kapitalistischen Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft, die ihren sozialdarwinistischen Kern wieder stärker hervorkehrt, delinquentes Verhalten subjektiv gerade bei system- und wertekonformer Orientierung nahelegen. "Aggressives Verhalten und Jugendkriminalität entsteht in dieser Perspektive auch nicht so sehr aus der Verfolgung devianter Ziele, sondern gerade als Folge des hohen Grades, in dem zentrale Werte des Systems geteilt werden. Gerade die Integration in eine umfassende Leistungs- und Erfolgskultur kann abweichendes Verhalten in dem Maße erzeugen, in dem der wertgeschätzte Erfolg nicht auf konforme Weise, also mit legitimen, gesellschaftlich akzeptierten Mitteln, erreicht werden kann" (Engel, Hurrelmann 1993, S.242). Indem die "moderne" (durchkapitalisierte) bürgerliche Gesellschaft einerseits in stets neuen Dimensionen warenästhetische Anreize setzt und die subjektiv erstrebenswerten konsumistischen Leitbilder und Identitätsformen kreiert, gleichzeitig aber eine größer werdende Zahl von Menschen aus dem System der Gewährleistung von Lebenschancen ausgrenzt bzw. an den Rand drängt, produziert sie zwangsläufig Delinquenz als eine Form der Verarbeitung des Widerspruchs zwischen Anreizung und Ausschließung.

II. Wiederkehr der Proletarität?

K.H.Roth (1993) hat die sozialstrukturellen Konsequenzen der globalen Umgestaltung des fordistischen Akkumulationsmodells in Richtung auf ein weltweit radikalisiertes Kapitalverhältnis unter Bezugnahme auf die Fallbeispiele Italien, Mexiko, Frankreich, Osteuropa und Deutschland analysiert und in diesem Kontext die Effektivierung der Ausbeutungsbeziehungen im Maßstab des kapitalistischen Weltsystems prägnant umrissen. Den Kernaspekt dieser globalen "postfordistischen" Deregulierungsstrategie im Zeichen verschärfter Standortkonkurrenz der nationalstaatlich gestützten Kapitale bildet der umfassende Angriff auf die erkämpften sozialen Standards der Lohnabhängigen: Normalarbeitstag, Vierzigstundenwoche, Lohnstabilität, staatlich garantierte Lohnersatzleistungen für Krankheit, Invalidität und Alter. Die Eliminierung bzw.Erosion dieser sozialstaatlichen Regelungen, die Zerstörung disparater ökonomischer Strukturen (Osteuropa) sowie die "naturwüchsige" Entfesselung der eigengesetzlichen Verwertungsimperative des global agierenden Kapitals habe tendenziell ein neues Proletariat in einer kapitalistischen Welt zur Folge. "Die bisherigen strukturellen Klassenunterschiede der ersten, zweiten und dritten Welt werden zunehmend nivelliert, miteinander verflochten und aneinander angepaßt" (Roth 1993, Teil I, S.10).

Im Ergebnis der Wiedervereinigung seien nun auch in Deutschland Ghettos der Deindustrialisierung (wie in Frankreich), kombiniert mit Zonen einer diffusen Massenverarmung (wie in Italien und Mexiko) entstanden, "und das alles vor dem Hintergrund eines aufgeblähten Reservearbeitsmarkts der Unterbeschäftigten, dessen Steuerungsmechanismen aufgrund der sich weiter östlich etablierenden Niedriglohngebiete zusätzlich unter Druck geraten" (Teil II, S.10). Die massenhafte Neuschöpfung existentiell ungeschützter und marginalisierter Formen der Lohnarbeit in Gestalt von Teilzeitarbeitskräften, geringfügig Beschäftigten, Saison- und Wanderarbeitern sowie "selbständigen ArbeiterInnen" wird von Roth als "Wiederkehr der Proletarität" etikettiert.Mit dieser terminologischen Fassung wird nun allerdings eine desorientierende Assoziationskette bis hin zur Reanimation des "Proletariatsmythos" und daran geknüpfter politisch-stategischen Optionen in Gang gesetzt, die die reale Problematik emanzipatorischer ("praktisch-kritischer") Subjektentwicklung im "postfordistischen" Kapitalismus voluntaristisch vereinfacht. Wenn nämlich - historisch undifferenziert - die "Wiederkehr der Proletarität" verkündet wird, dann ist damit zumindest implizit eine traditionalistische Denkfigur im Spiel, die folgende inadäqute Deutungsmuster beinhaltet:

1) Im Rahmen der traditionalistischen (vulgärmarxistischen) Denkform ist "Proletarität" mit einem a priori "homogenisierenden" Begriff von "Arbeiterklasse verbunden, der abstrakte und konkrete Klassenmerkmale vermengt. Die komplizierte, sich geschichtlich entfaltende Widersprüchlichkeit von abstrakter "Vereinheitlichung" (Globalisierung der Lohnarbeit) und konkreter "Ausdifferenzierung" im Entwicklungsprozeß der Lohnarbeit wird auf diese Weise im Interesse der Schöpfung einer im Prinzip ahistorischen Homogenitätsauffassung ausgeblendet. Als "Modell" dieser so konzipierten "homogenen" Arbeiterklasse werden die normativen Attribute des klassischen Industrieproletariats generalisiert. Demgegenüber manifestieren sich im historischen Verlauf der kapitalistischen Systemreproduktion zwei elementare sozialstrukturelle Prozesse: a) eine sukzessive und irreversible Bedeutungabnahme des überwiegend manuell tätigen Fabrik- bzw. Industrieproletariats und b) eine Ausdehnung der "intermediären" Bereiche (Handels-, Transport- und Dienstleistungssektoren) in Verbindung mit der Bedeutungszunahme geistiger und verwaltender Arbeitstätigkeiten. Die Folge ist eine wachsende Ausdehnung, Umschichtung und Heterogenisierung/Pluralisierung der Lohnarbeit bzw. eine fortlaufende Ausdifferenzierung von lagespezifischen Lohnarbeitsformen. Die Auflösung der "präfordistischen" Proletarität als historische Erscheinungsform von Lohnarbeit ist demnach als unumkehbarer Prozeß anzusehen. "Proletarität" als "klassischer" (konkret-historischer) Merkmalskomplex (relativ homogene Existenzweise unter sinnlich-evidenten "industrialistischen" Ausbeutungs-, Elends- und Herrschaftsbedingungen als Grundlage für einen relativ gleichförmigen Erfahrungsbildungs- und Lernprozeß) kann deshalb unter gänzlich gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen nicht willkürlich wiederhergestellt werden bzw. spontan wiederkehren.

2) Die Neuschaffung ungeschützter, marginalisierter, flexibilisierter Arbeitsverhältnisse findet vor dem institutionellen, soziokulturellen und sozialisatorischen (Erfahrungs-) Hintergrund der fordistischen Verhältnisse statt. D.h. die fordistischen Regelungsmechanismen (Sozialgesetzgebung, Arbeitsrecht etc.), Arrangements (kompromißorientierte Beziehungsstruktur zwischen Gewerkschaften, Unternehmerverbänden,Parteien, Staatsapparaten) und Subjektprägungen (Bildungsniveau, warenästhetisch durchgestylte Bedürfnisstruktur, modifizierter Lebenlauf, Informationsverhalten etc.) wirken, wenn auch in reduzierter und "gebrochener" Form nach. Die neokonservativen Attacken haben den "keynesianistischen Sozialstaat" zwar demoliert, partiell außer Kraft gesetzt und erhebliche Deregulierungstendenzen freigesetzt, aber keinesfalls zu einer Totalrevision der fordistischen Regulation geführt. Weit davon entfernt, eine konsistente "postfordistische" Formation geschaffen zu haben, scheint die neokonservative Offensive vorerst zum Stillstand gekommen zu sein. Außerdem weist die Struktur der neuen "postfordistischen" Arbeitsverhältnisse einen so hohen Grad an Ungleichartigkeit auf, daß von der Wiederentstehung eines einheitlichen neoproletarischen Erfahrungsraumes bzw. Milieus nur schwerlich die Rede sein kann. Mit mindestens der selben Berechtigung könnte eine sich verfestigende korporatistische Abschottung der unterschiedlichen Segmente der Lohnabhängigen vorhergesagt werden. Insbesondere den von Roth ins Rampenlicht gesetzten "selbständigen ArbeiterInnen" mit ihrer (Selbst-) Ausbeutung des Bedürfnisses nach individueller Autonomie fehlt ein Kernmoment der klassischen Proletarität: Die Unterordnung unter die "Despotie der fabrikmäßigen Arbeitsdisziplin" und die unmittelbare organisatorische Kommandostruktur des Kapitals. Insofern bleibt der im traditionellen Diskurs angeblich an Proletarität gebundene mechanische Zusammenhang von homogener sinnlich-evidenter Ausbeutungserfahrung und entsprechender subversiver Bewußtseinsentwicklung nach wie vor obsolet.

3) Mit dem Deutungsschema der "Wiederkehr der Proletarität" wird - in enger Wechselwirkung mit der "Homogenitätstheorie der Arbeiterklasse" und der mechanistischen (ökonomistischen) Bewußtseinskonzeption - zudem die teleologische Subjektauffassung reaktiviert. In dieser Sichtweise trägt das als homogen vorgestellte Proletariat seinen Subjektcharakter von vornherein als essentialistische Eigenschaft ("schlummernde Potenz") in sich. Infolge krisenhafter Verschlechterung der Lebensbedingungen und "vorwärtstreibender" Anleitung durch die "revolutionäre Partei" (oder heute bescheidener: neoproletarische Zirkel) entfalte sich die immanente Subjektpotenz gesetzmäßig und aktualisiere sich schließlich in der proletarischen Revolution. Getreu dieser Tradition konfundiert auch Roth Klassenlage und Subjektstatus, indem er aus der globalen Reproletarisierung unvermittelt ein neues Klassensubjekt hervorgehen sieht, auf das sich die Linke nur noch beziehen und ihre Erfahrungen einbringen müsse. Demgenüber ist aus kritisch-marxistischer Sicht die "praktisch-kritische" Subjektformierung der lagespezifisch dissozierten Lohnabhängigen als komlizierter, entwicklungsoffener bzw. kontingenter Prozeß zu begreifen und entspechend auf "nichttraditionelle", d.h. nichtökonomistische und nichtpolitizistische Weise zu reflektieren. Die Deutung der sich verschärfenden sozialen Polarisierung im "postfordistischen" Kapitalismus als "Wiederkehr der Proletarität" ist m.E. gerade als Ausdruck der Angst der Linken anzusehen, folgenden Widerspruch unverstellt zur Kenntnis zu nehmen, auszuhalten und theoretisch wie praktisch angemessen zu verarbeiten: "Marxistische Analyse muß heute damit fertig werden, das ist doch der Punkt der aktuellen Diskussion, daß der Klassengegensatz sich zwar entfaltet, insofern analytisch präsent bleibt - was auch kaum bezweifelt wird -, daß er aber im gleichen Maße weniger erfahrbar , prägend und insofern relevant für das Handeln und Verhalten der verschiedenen Subjekte wird" (Thomas 1990, S.111).

Im neuen Licht dieser widersprüchlichen Gleichzeitigkeit von objektiver sozialstruktureller Polarisierung einerseits und abnehmender subjektiver Handlungsrelevanz klassen- und sozialstruktureller Gliederungen andererseits gilt es im folgenden (a) den Status der marxistischen Klassentheorie zu klären, (b) die neueren sozialstrukturellen Entwicklungsprozesse einzuschätzen und (c) das komplizierte Verhältnis von sozialem Lebensstandort und Bewußtseinsentwicklung unter Rückgriff auf vielfach unberücksichtigt bleibende marxistische Forschungsergebnisse ein Stück weit aufzuhellen.

III. Zur Konstitution des marxistischen Klassenkonzepts

Aufgrund der normierenden Wirkung der "geschlossenen" bzw. "monolithischen" Form des stalinisierten (Partei-) Marxismus ist der Tatbestand verdrängt worden, daß das von Marx und Engels initiierte wissenschaftlich-politische Projekt ein unvollständiges, entwicklungsbedürftiges, Lücken aufweisendes, partiell widersprüchliches "Werk in permanenter Bewegung" ist. Das gilt gerade auch für die im Anschluß an Marx konzipierte marxistische Klassentheorie, die zu Recht als zentrales Moment des "Gesamtwerks" begriffen wird. Zwar ist bekanntlich das 52. und letzte Kapitel des dritten Bandesdes "Kapitals" mit der Überschrift "Die Klassen" unvollendet geblieben, aber die kategorial-methodische Grundlegung des Klassenkonzepts ist in den Schriften von Marx und Engels deutlich genug enthalten. Zunächst gilt es kurz den wesentlichen Unterschied zwischen dem Marxschen Klassenkonzept und der bürgerlichen Schichtungstheorie zu markieren: In den hierarchischen Schichtungsmodellen werden interindividuelle sozialökonomische Unterschiede sowie deren subjektive Bewertung anhand ausgewählter Indikatoren (Einkommen, Beruf, Bildungsniveau, Prestige ect.) deskriptiv erfaßt, korreliert, zu "Merkmalsklassen" gebündelt und deren empirisch-statistische Verteilung auf eine ausgewählte Population zu einem bestimmten Zeitpunkt festgestellt. Auf diese Weise erhält man eine statisch-empiristische Momentaufnahme der sozialstrukturellen Erscheinungsoberfläche unter Verzicht auf eine systematisch entwicklungstheoretisch ausgerichtete Rekonstruktion der sozialen Ungleichheitsverhältnisse. Im Unterschied dazu ist die Marxsche Klassenkonzeption darauf konzentiert, die strukturierenden Wesensgrundlagen sozialer Ungleichheit in ihrer geschichtlichen Bewegungunsdynamik zu erfassen.

Seine "Identität" nun gewinnt die Marxsche Klassenkonzeption aufgrund einer zweifachen Fundierung: A. Historisch-materialistische Fundierung: In der Perspektive des historischen Materialismus ist die spezifisch-menschliche Form der Lebensgewinnung und -erhaltung charakterisiert durch existenznotwendige praktisch-tätige Eingriffe in die äußere Lebensumwelt. D.h. die Fähigkeit zu bewußt-zweckmäßiger, werkzeugvermittelter, kooperativ-kommunikativer, naturverändernder Arbeit ist die evolutionär hervorgebrachte gattungsspezifische Bewältigung des Widerspruchs zwischen vergesellschafteten Menschen und außermenschlicher Natur, "erste Grundbedingung allen menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daß wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen" (MEW 20, S.444).

Kennzeichnendes Merkmal der menschlichen Umweltaneignung in Gestalt gesellschaftlicher Arbeit ist deren Doppelcharakter als zugleich a) Naturverhältnis und b) zwischenmenschliches Verhältnis. Indem die Menschen materielle Güter herstellen, produzieren sie gleichzeitig ihre eigenen gesellschaftliche Verhältnisse: "In der Produktion wirken die Menschen nicht allein auf die Natur, sondern auch aufeinander. Sie produzieren nur, indem sie auf eine bestimmte Weise zusammenwirken und ihre Tätigkeiten gegeneinander austauschen. Um zu produzieren, tretensie in bestimmte Beziehungen und Verhältnisse zueinander, und nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Einwirkung auf die Natur, findet die Produktion statt" (MEW 6, S.407).

Während als "künstliche Mittler" des produktiven Stoffwechselprozesse zwischen vergesellschafteten Menschen und Natur Arbeitswerkzeuge (Arbeitsmittel) fungieren, generieren als "künstliche Mittler" der zwischenmenschlichen Tätigkeitsabstimmung Zeichensysteme (Sprache) und arbeitsteilige Beziehungsstrukturen. Mit der allmählichen Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft und Naturbeherrschung infolge der "agrarischen Revolution", der Etablierung erster konstanter Formen der Arbeitsteilung (zunächst zwischen Ackerbau und Viehzucht, später zwischen Handwerk und Ackerbau) und der dadurch ermöglichten Erwirtschaftung eines beständigen Mehrprodukts kommt es schließlich zur Herausbildung gesellschaftlicher (Re-)Produktionssysteme mit strukturell ungleichen (antagonistischen) Positionen bezüglich der Voraussetzungen (Produktionsmittel), Bedingungen (Regulierung des Arbeitsprozesses) und Resultate (erzeugter Reichtum) des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. In diesem Prozeß der antagonistischen "Verwidersprüchlichung" der (re-)produktionsbezogenen zwischenmenschlichen Verkehrsformen verschränken sich insbesondere zwei konstitutive Ungleichheitsrelationen:

a) die Leistung von Mehrarbeit seitens der unmittelbaren Produzenten und deren Aneignung durch nichproduzierende privilegierte Klassen von Eigentümern (Ausbeutungbeziehung) und

b) die Teilung von unmittelbar-produktiver körperlicher Arbeit und "anleitender" sowie "allgemeiner" (Staatsgeschäfte, Justiz, Wissenschaft etc.) geistiger Arbeit (Herrschaftsbeziehung).

In dieser "Ausdifferenzierung" gegensätzlich-asymmetrischer Klassenpositionen im Gesamtgefüge des gesellschaftlichen Tätigkeitssystems - auf der Grundlage des widersprüchlichen Verhältnisses zwischen der gesellschaftlichen Arbeit und der partikulären Aneignung des Mehrprodukts - liegt für Marx der Schlüssel für die Aufdeckung der "Tiefenstruktur" der sozialen Ungleichheit. Und damit erschließt sich ihm auch die Antriebsdynamik der gesellschaftlich-historischen Entwicklung als Dynamik von klassenwidersprüchlich vermittelten Konflikten.

In Lenins berühmter "Klassendefinition" werden die von Marx und Engels erarbeiteten wechselseitig korrelierenden Kernmomente des "allgemeinen" (historisch-materialistischen) Klassenbegriffs prägnant zusammengefaßt: "Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftliche Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit einer anderen aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft" (Lenin 1976, S.410).

Hervorzuheben ist, daß mit dieser begrifflichen Bestimmung ein methodologischer Orientierungrahmen existiert, der nicht eindimensional auf das Verhältnis zu den Produktionsmitteln fixiert ist, sondern der es erlaubt, a) Zwischen- und Übergangsklassen zu verorten und b) klasseninterne Differenzierungen zu untersuchen. Es ist schon erstaunlich, daß Autoren wie z.B. Giddens (1979), die sich um eine kritische Rekapitulation der Klassentheorie bemüht haben, Lenins "Klassendefinition" und ihren kategorial-metodischen Gehalt vollständig außer Acht lassen.

B. Kapitaltheoretische Fundierung: Die Spezifik der kapitalistischen Produktionsweise und der ihr entsprechenden Produktionsverhältnisse und Verkehrsformen erforscht Marx mit dem Ziel, "das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen" (Marx 1976, S.15f.). Damit rekonstruiert er zugleich den Bildungsprozeß des zugrundeliegenden asymmetrisch-dialektischen Klassenverhältnisses in historischer Perspektive. Die ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft sieht er "hervorgegangen aus der ökonomischen Struktur der feudalen Gesellschaft. Die Auflösung dieser hat die Elemente jener freigesetzt" (ebenda S.743). Einerseits ist die Genese des Kapitals gebunden an die historische Durchsetzung der industriellen Kapitalisten gegen die "empörenden Vorrechte" der Feudalgewalten sowie die kontraproduktiven Fesseln der Zünfte. Andererseits bildet die qualvolle Hervorbringung des "doppelt freien" Lohnarbeiters die zweite Grundvoraussetzung der kapitalistischen (Re-)Produktion. Das Kapitalverhältnis wird somit durch das dialektisch-komplementäre Aufeinandertreffen von zwei qualitativ ungleichen Warenbesitzern konstituiert: "einerseits Eigner von Geld, Produktions- und Lebensmitteln, denen es gilt, die von ihnen geeignete Wertsumme zu verwerten durch Ankauf fremder Arbeitskraft; andererseits freie Arbeiter, Verkäufer der eigenen Arbeitskraft und daher Verkäufer von Arbeit...Mit dieser Polarisation des Warenmarkts sind die Grundbedingungen der kapitalistischen Produktion gegeben. Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus. Sobald die kapitalistische Produktion einmal auf eigenen Füßen steht, erhält sie nicht nur jene Scheidung, sondern reproduziert sie auf stets wachsender Stufenleiter" (ebenda S.472).

Das Vorhandensein und die beständige Reproduktion einer Klasse "doppelt freier" Lohnarbeiter ist folglich Grundvoraussetzung und bleibende Bestandsgarantie des Kapitalverwertungsprozesses. Indem Marx, ausgehend von der Warenanalyse, unter Anwendung der logisch-historischen Methode die Bewegungunsgesetze der kapitalistischen (Re-)Produktion aufdeckt, entwickelt er damit zugleich implizit einen analytischen Leitfaden zur Erforschung der Entwicklungsdynamik der kapitalistischen Sozialstruktur. Hat nämlich das dialektisch-komplementäre Zusammentreffen von Kapitaleignern und "doppelt freien" Lohnarbeitern den Kapitalverwertungsprozeß erst einmal in Gang gesetzt, fungiert die selbstbeschleunigende Verwertungslogik des Kapitals - vergegenständlicht in den auf Profitmaximierng bedachten Handlungsstrategien der konkurrierenden Einzelkapitale - fortan als Strukturierungs- und Gestaltungsgrundlage der formationsspezifischen Klassen- und sozialen Ungleichheitsverhältnisse:

1) Aufgrund der konkurrenzvermittelten Dialektik der Einzelkapitale generieren (gesamt-)kapitalimmanente Differenzierungsprozesse (Konzentration und Zentralisation; Monopolbildung; Verflechtungen etc.) und bewirken einen strukturellen und funktionalen Wandel der "Kapitalistenklasse" (Monopolbourgeoisie; Finanzkapital; mittlere und Kleinbourgeoisie; Managerschicht; Kapitalgruppen etc.).

2) Das Ensemble der konkurrenzförmigen einzelkapitalistischen Profitmaximierungsstrategien übt in seiner Totalität einen fortwährenden strukturiernden Einfluß auf die qualitativen und quantitativen Angebots- und Nachfrageverhältnisse des Arbeitsmarktes sowie auf die jeweils konkreten betrieblichen Nutzungsmodalitäten der Arbeitskräfte und deren kooperativen Organisationsformen aus. Infolgedessen befindet sichdie Struktur der Lohnarbeiter in einem kontinuierlichen Wandlungsprozeß, der selbstverständlich "Qualitätssprünge" aufweist. Im einzelnen sind hier folgende Aspekte/Dimensionen zu unterscheiden:

a. Stofflicher Aspekt: Der Zwang zur permanenten Umwälzung/Effektivierung der Produktions- und Absatzmethoden (Einführung neuer arbeitsrelevanter Technologien; arbeitsorganisatorische Veränderungen; Erschließung günstigerer Einkaufs- und Verkaufsmöglichkeiten etc.) zwecks Senkung des individuellen Warenwerts unter den gesellschaftlichen Durchschnittswert verändert die konkrete Anforderungsstruktur der Lohnarbeit und damit die Nachfrage nach Arbeitskräften entsprechender (betrieblich-funktionaler) Güte. Infolgedessen kommt es - in Anbetracht des stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse - zu einem widersprüchlich-selektiven Profilwandel der Arbeitskraftanbieter in den Dimensionen: Qualifikation, Anpassungsbereitschaft, Verfügbarkeit. In die gleiche Richtung wirkt die Veränderung der Branchenstruktur infolge von Kapitalwanderungsprozessen aufgrund unterschiedlicher Profitratenentwicklung.

b. Expansiver Aspekt: Im Zuge der Weltmarktherstellung und der Globalisierung kapitalistischer (Re-)Produktionsverhältnisse geraten immer größere Menschenmassen in den Sog der Dialektik von Lohnarbeit und Kapital. Im Rahmen dieser Ausdehnungsprozesse werden auch die Arbeitsmarktprozesse internationalisiert und zugleich segmentiert. Da in Abhängigkeit vom variierenden national-gesellschaftlichen Produktivitäts- und Intensitätsgrad unterschiedliche Wertsummen produziert werden, entwickeln, verfestigen und vertiefen sich divergierenden Einkommens- und Existenzverhältnisse zwischen den einzelnen Nationen des konkurrenzförmigen kapitalistischen Weltsystems. Zudem findet eine schubweise kapitalistische Durchdringung tendenziell sämtlicher Lebenssphären außerhalb der Industrie statt. Dieser Prozeß der "inneren" und"äußeren" Kapitalexpansion mit dem Resultat der Diversifizierung von Lohnarbeitsformen sowie der Herausbildung von inter-nationalen Ungleichheitsverhältnissen wird ergänzt durch die Ausdehnung von staatlichen Vermittlungs- und Regulierungstätigkeiten infolge der Komplexitätszunahme der kapitalistischen (Re-)Produktion und ihrer nachlassenden Selbstregulierungsfähikeit (Zunahme der "Staatsbeschäftigten").

c. Akkumulations- und krisenzyklischer Aspekt: Das allgemeine Gesetz der Akkumulation sowie deren krisenzyklische Bewegung beinhalten die Tendenz zur permanenten Erzeugung von Disproportionen im Verhältnis von Arbeitskräfteangebot und -nachfrage. Entsprechend generieren zwischen dauerhaft Beschäftigten (unbefristete "Normalarbeitsverhältnisse"), marginalisierten Lohnabhängigen (Teilzeit-, befristete und sporadische Arbeitsverhältnisse) und dauerhaft Ausgegrenzten lagespezifische Disparitäten in je konkret-historischer Gestalt. Marx analysiert die relative Überbevölkerung bzw. die "industrielle Reseverarmee" in ihrer flüssigen, latenten und stockenden Form und rechnet zur letzteren, neben dem eigentlichen Lumpenproletariat (Vagabunden, Verbrecher, Prostituierte), Arbeitsfähige, Waisen- und Pauperkinder und schließlich Verkommene, Verlumpte und Arbeitsunfähige. "Es sind namentlich Individuen, die an ihrer durch die Teilung der Arbeit verursachten Unbeweglichkeit untergehn, solche, die über das Normalalter eines Arbeiters hinausleben, endlich die Opfer der Industrie, deren Zahl mit gefährlicher Maschinerie, Bergwerksbau, chemischen Fabriken etc. wächst, Verstümmelte, Verkrankte, Witwen etc. Der Pauperismus bildet das Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee und das tote Gewicht der industriellen Reservearmee" (Marx 1976, S.673).

Im Kapitalismus der Gegenwart hat sich chronische Massenarbeitslosigkeit von gut bis hochqualifizierten "Normalarbeitskräften" als strukturelles Phänomen mit der Tendenz zur Herausbildung einer Schicht von Dauerarbeistlosen verfestigt. "Alles spricht dafür, daß die soziale Schicht der Dauerarbeitslosen im vereinten Deutschland in naher Zukunft quantitativ und damit auch gesellschaftspolitisch an Gewicht zunehmen wird" (Kronauer u.a. 1993, S.237). d. Konfliktorischer Aspekt: Der fallweise Widerstand von Lohnabhängigen gegen bestimmte Ausbeutungs- und Herrschaftsaspekte und die Reaktion/Antizipation der Kapitaleigner bezüglich dieser Widerstandsaktivitäten übt einen gravierenden Einfluß auf die konkrete Ausformung der Klassenbeziehungen und klassenmäßigen Arbeits- und Existenzverhältnisse der Lohnabhängigen aus. D.h. die klassendialektische Dynamik wirkt als selbstorganisierender Faktor der sozialen Strukturierung.

Das betrifft zum einen die historisch-moralische Dimension der Reproduktionsbedingungen der Arbeitskräfte: Wie Marx (1976, S.185) hervorhob, "ist der Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteilsvon der Kulturstufe eines Landes, unter andrem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat." Zm anderen ist hier auf die von den Arbeiterbewegungen erkämpften sozialen und politischen "Bürgerechte" zu verweisen, die historisch - mit Blick auf die entwickelten kapitalistischen Zentren - zumindest eine partielle Selbst-Deproletarisierung bewirkt haben, ohne freilich die Bestimmung der Lohnarbeiter als objektiv ausgebeutete, beherrschte und existenziell vom Wohl und Wehe der Kapitalbewegung entscheidend abhängige Klasse aufheben zu können.

Die allgemeine, historisch-materialistisch und kapitaltheoretisch fundierte Klassenkonzeption von Marx und Engels enthält in begrifflicher Hinsicht vier Hauptmerkmale, die E.O.Wright (1985, S.239f.) folgendermaßen skizziert hat:

1. "Klasse ist ein relationaler Begriff. Klassen werden nicht durch ihre Eigenschaften als solche definiert, sondern durch ihr Verhältnis zu anderen Klassen."

2. "Diese Verhältnisse sind antagonistisch, nicht symmetrisch und reziprok."

3. "Die objektive Grundlage dieser antagonistischen Interessen ist Ausbeutung."

4. "Das Geheimnis der Ausbeutung ist in der gesellschaftlichen Organisation des Produktionssystems zu suchen, insbesondere in der Art und Weise, wie Besitz und Kontrolle der Produktionsmittel strukturiert sind."

Im Unterschied zu Wright, der ähnlich wie Giddens bei Marx einen unzureichend vermittelten Dualismus von a) abstraktem (polarisiertem) Klassenschema und b) komplexer (multiphänomenaler) Beschreibung von konkreten Klassenakteuren konstatiert, ist m.E. aber die sozialstrukturanalytische Potenz der Marxschen Kapitalanalyse in den oben beschriebenen Dimensionen als wissenschaftlicher Kern der modernen Klassentheorie stärker zu gewichten. Allerdings sind Unzulänglichkeiten und Schwachstellen bezüglich der Behandlung der Klassenfrage im Gesamtwerk von Marx und Engels nicht zu ignorieren. Im Sinne einer kritischen Rekonstruktion und Weiterentwicklung der marxistischen Gesellschaftstheorie gilt es, neben der Herausarbeitung der tragfähigen Fundamente der Marxschen Klassenkonzeption, diese Schwachstellen deutlich zu machen und zu überwinden, anstatt sie zum willkommenen Anlaß zu nehmen, die "marxistische Klassentheorie" pauschal zu verwerfen und durch "moderne" Surrogate zu ersetzen. Entgegen der dialektisch-historischen Grundsubstanz ihres Denkens lassen sich im Werk von Marx und Engels folgende (klassen-)theoretischen Mängel feststellen:

1) In einer Reihe von Klassikertexten ist eine Tendenz zur Überverallgemeinerung unverkennbar, indem die konkret-empirische Gestalt des früh- bzw. konkurrenzkapitalistischen (Industrie-)Proletariats als Grundlage für zukunftsbezogene Extrapolationen und tendenzielle "Gesetzesaussagen" dient. Im Interesse der Konstruktion von "Proportionalitätsgleichungen" bleiben a) konkurrenzbedingte Desintegrationsprozesse innerhalb der Arbeiterklasse und b) die Möglichkeit zukünftiger Qualitätssprünge in der Ausgestaltung des Widerspruchsverhältnisses zwischen Lohnarbeit und Kapital (im Sinne des konfliktorischen Aspekts; vgl. auch Anmerkung 19) ausgeblendet bzw. werden als nebenrangig vernachlässigt.Exemplarisch sei hier auf folgende Aussage von Marx (1976, S.790f.) verwiesen: "Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses (produktionstechnischen und -organisatorischen, H.K.) Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse." Auf diese Weise wird der Verbreitung und dogmatischen Verfestigung von simplifizierenden und einseitigen Verelendungs- und Homogenitätsauffassungen (in Mißachtung des mehrdimensionalen dialektischen Gesamtkontexts der Klassenkonzeption) eine Anknüpfungsmöglichkeit geliefert.

2) Bei der Bestimmung der historischen Mission der Arbeiterklasse wird unvermittelt und "mechanisch" - mit Hilfe des Postulats einer "zwangsläufigen" Gesetzmäßigkeit - von der objektiven (sozial-ökonomisch determinierten) Lage auf die subjektive Bewußtseins- und Handlungsebene "kurzgeschlossen". D.h. in Ermangelung einer Subjektivitätskonzeption "springen" Marx und Engels von der strukturtheoretischen auf die handlungstheoretische Ebene und leiten das "revolutionäre Proletariat" zunächst abstrakt-dialektisch (philosophisch), später ökonomisch ab. So heißt es in der "Heiligen Familie": "Es handelt sich nicht darum, was dieser oder jener Proletarier oder selbst das ganze Proletariat sich einstweilen vorstellt. Es handelt sich darum, was es ist und was es diesem Sein gemäß geschichtlich zu tun gezwungen sein wird. Sein Ziel und seine geschichtliche Aktion ist in seiner eigenen Lebenssituation wie in der ganzen Organisation der heutigen bürgerlichen Gesellschaft sinnfällig, unwiderruflich vorgezeichnet" (Engels, Marx 1973, S.38).

Und im "Manifest der Kommunistischen Partei" von 1848 heißt es: "Der Fortschritt der Industrie, dessen willenloser und widerstandsloser Träger die Bourgeoisie ist, setzt an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation. Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich" (MEW 4, S.473f.).

Diese deterministische "Ableitung" der historischen Mission der Arbeiterklasse ist es, die später im Diskurs der II.Internationale und im stalinisierten Parteimarxismus der kommunistischen Bewegung zum Fetisch erhoben worden ist, statt Ansporn zu sein zur wissenschaftlich-kritischen Weiterentwicklung des "vorgefundenen" Marxismus z.B in Richtung auf einen "kulturellen Materialismus" wie bei Gramsci oder in Richtung auf die Ausarbeitung einer materialistischen (Tätigkeits-)Psychologie wie bei der "Kulturhistorischen Schule" (Wygotski, Leontjew, Lurija, Galperin u.a.). Im klassischen Marxismus fehlt folglich eine konsistente theoretische Konzeption der komplizierten "Eigenlogik" sowie der Möglichkeitsbedingungen praktisch-kritischer revolutionärer Tätigkeitsentwicklung auf der Grundlage der dialektischen Verschränkung von objektiven (gesellschaftlichen) Bedingungen und subjektiver (psychischer) Beschaffenheit/Eigengesetzlichkeit der "gesellschaftlichen Individuen".

Dennoch ist aber m.E. folgende Einschätzung zutreffend: "Eine an den Grundkategorien der Marxschen Kapitalismusanalyse orientierte Klassenanalyse wird nicht dadurch irrelevant, daß bestimmte Annahmen Marx' über die Entwicklung des Kapitalismus nicht eingetreten sind; oder deshalb, weil einige Textstellen teleologische oder gar eschatologische Lesarten nahelegen. Entscheidender Prüfstein für die Relevanz der Klassenanalyse bleibt der Nachweis, daß zentrale strukturelle und dynamische Merkmale der kapitalistischen Produktionsweise (verallgemeinerte Warenproduktion, Lohnarbeit, Kapital, Kapitalakkumulation, inhärente Neigung zur Überproduktion) noch auf die gegenwärtige Produktionsweise zutreffen" (Teschner 1989, S.6).

Literatur:

Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik: Memorandum '92. Gegen den ökonomischen Niedergang - Industriepolitik in Ostdeutschland, Köln 1992.

Boyer, Robert: Neue Richtungen von Managementpraktiken und Arbeitsorganisation. Allgemeine Prinzipien und nationale Entwicklungspfade. In: A. Demirovic, H.-P. Krebs, T. Sablowski (Hrsg.): Hegemonie und Staat. Kapitalistische Regulation als Projekt und Prozeß. Münster 1992. S.55-103.

Brown, Lester R.: Start der ökologischen Revolution. In: Worldwatsch Institute Report: Zur Lage der Welt - 1992. Daten für das Überleben unseres Planeten. Frankfurt am Main 1992, S.227-254. Engel, Uwe, Hurrelmann, Klaus: Was Jugendliche wagen. Eine Längsschnittstudie über Drogenkonsum, Streßreaktionen und Delinquenz im Jugendalter, Weinheim und München 1993.

Engels, Friedrich: Dialektik der Natur. MEW Band 20. Berlin 1978.

Engels, Friedrich, Marx, Karl: Die Heilige Familie oder Kritik der Kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten. Berlin 1973.

Engels, Friedrich, Marx, Karl: Artikel aus der "Neuen Rheinischen Zeitung" (9. November 1848-19. Mai 1849): Lohnarbeit und Kapital. In: MEW Band 6. Berlin 1975a. S. 397-423.

Engels, Friedrich, Marx, Karl: Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW Band 4. Berlin 1980. S. 459-493.

Giddens, Anthony: Klassenspaltung, Klassenkonflikt und Bürgerrechte - Gesellschaft im Europa der achtziger Jahre. In: Reinhard Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt Sonderband 2). Göttingen 1983, S.15 - 33. Giddens, Anthony: Die Klassenstruktur fortgeschrittener Gesellschaften, Frankfurt am Main 1984.

Hanesch, Walter u.a.: Armut in Deutschland. Der Armutsbericht des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Reinbek bei Hamburg 1994.

Hennicke, Peter, Seifried, Dieter: Die Stabilisierung des Klimas: Ein anderer Umgang mit Energie. In: PROKLA 86 März 1992: Ökologie und Entwicklung, Berlin 22(1992)1. S.23 - 33.

Kowalski, Reinhold: Die deutsche Wirtschaft Anfang 1994: Bilanz und Prognosen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Bonn 39(1994)2, S.229 - 233.

Kreckel, Reinhard: Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt am Main/New York 1992.

Kronauer, Martin, Vogel, Berthold, Gerlach, Frank: Im Schatten der Arbeitsgesellschaft. Arbeitslose und die Dynamik sozialer Ausgrenzung, Frankfurt am Main/New York 1993.

Lenin, Wladimir Iljitsch: Die große Initiative. Lenin-Werke, Band 29, Berlin 1975, S.397-424.

M rmora, Leopoldo: "Sustainable Development" im Nord-Süd-Konflikt: Vom Konzept der Umverteilung des Reichtums zu den Erfordernissen einer globalen Gerechtigkeit. In: PROKLA 86 1992: Ökologie und Entwicklung, Berlin 22(1992)1, S.34 - 46.

Marx, Karl: Arbeitslohn. MEW Band 6. Berlin 1975b. S. 535-556.

Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Frankfurt am Main 1976. Mauke, Michael: Die Klassentheorie von Marx und Engels, Frankfurt am Main - Köln 1977.

Mayer, Margit: Aufstand in Los Angeles. In: PROKLA 87 1992: Nationalismus am Ende des 20. Jahrhunderts, Berlin 22(1992)2, S.323 - 331. Müller, Hans-Peter: Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit. Frankfurt am Main 1992.

O'Connor, James: Kein Ausweg? Die Ökonomie der 90er Jahre. In: PROKLA Berlin 22(1992) 3. S. 461-475.

Roth, Karl Heinz: Wiederkehr der Proletarität und die Angst der Linken (Teil I, II, III und IV). In: Neues Deutschland vom 31.07./01.08., 07.08./08.08, 14.08./15.08., 21.08./22.08. 1993, jeweils S.10.

Teschner, Manfred: Was ist Klassenanalyse? Über Klassenverhältnis, Ausbeutung und Macht. In: Leviathan, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 17(1989)1, S.1 - 14.

Thomas, Michael: Marxistische Sozialstrukturtheorie in der aktuellen Soziologiediskussion: eine contradictio in adjecto? In: Peter A.Berger, Stefan Hradil: Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile (Soziale Welt Sonderband 7). Göttingen 1990, S.103 - 124.

Welzk, Stefan: Zur Schieflage der Nation. Marktpurismus, konzeptionelle Askese und neunzehn Wahlen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Bonn 39(1994)2, S.160 - 170.

Wright, Erik Olin: Was bedeutet neo und was heißt marxistisch in der neomarxistischen Klassenanalyse? In: H. Strasser, J.H. Goldthorpe (Hrsg.): Die Analyse sozialer Ungleichheit. Opladen 1985. S. 238-266. 1. "Nicht mehr aktive Ausbeutung, sondern stumme Marginalisierung in der Weltpolitik und Weltwirtschaft ist heute die Hauptquelle der Ungleichheiten zwischen Norden und Süden" (M rmora 1992, S.41). Sowohl als Rohstofflieferant, als Absatzmarkt und als Standort von Kapitalanlagen ist die Bedeutung des Südens in den vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen. Allein 1983 - 1987 fiel sein Welthandelsanteil von 25 auf 14 Prozent. Die bundesdeutschen Direktinvestitionen in den "Dritte-Welt-Ländern" gingen drastisch zurück: Flossen 1970 noch 23,7 Prozent aller Auslandsinvestitionen in die "Dritte Welt", so waren es 1989 nur noch 3 Prozent.

. "Nicht mehr aktive Ausbeutung, sondern stumme Marginalisierung in der Weltpolitik und Weltwirtschaft ist heute die Hauptquelle der Ungleichheiten zwischen Norden und Süden" (M rmora 1992, S.41). Sowohl als Rohstofflieferant, als Absatzmarkt und als Standort von Kapitalanlagen ist die Bedeutung des Südens in den vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen. Allein 1983 - 1987 fiel sein Welthandelsanteil von 25 auf 14 Prozent. Die bundesdeutschen Direktinvestitionen in den "Dritte-Welt-Ländern" gingen drastisch zurück: Flossen 1970 noch 23,7 Prozent aller Auslandsinvestitionen in die "Dritte Welt", so waren es 1989 nur noch 3 Prozent.

. "Von allen Kräften des Widerstands gegen die ökologische Revolution ist keine stärker als die aus den Unternehmensspitzen. Die Unternehmen, die an die Internalisierung der Gewinne gewöhnt sind, während sie Kosten externalisieren, indem sie Kosten für Umweltzerstörung und Zerrüttung der Gesellschaft ganz überwälzen, sind nicht auf umfassende Reform erpicht" (Brown 1992, S.241).

. "Bisher verdeckt der Zusammenbruch der DDR-Kommandowirtschaft und der fast um zwei Drittel gedrosselte Braunkohleeinsatz in Ostdeutschland gnädig die schleppende Umsetzung des deutschen Klimaschutzprogramms. Während die Kohlendioxid-Emissionen in den neuen Bundesländern - praktisch ohne gezielte klima- oder energiepolitische Eingriffe - seit 1987 geradezu abstürzten, stiegen sie in den alten Bundesländern sogar geringfügig an" (Kölner Stadtanzeiger vom 27./28. November 1993, S.36).

. "49 Milliarden Valutamarkt an Auslandsschulden hatte die DDR in etwa 30 Jahren aufgetürmt. Doch gut das Vierfache dieser Summe, nämlich 210 Milliarden Mark, floß allein in die neuen Länder. Die öffentliche Verschuldung Deutschlands wird sich innerhalb von viereinhalb Jahren auf 2000 Milliarden Mark verdoppeln" (Welzk 1994, S.160).

. "Ein gutes Drittel (35,5 Prozent) der bundesrepublikanischen Bevölkerung wies 1992 in mindestens einer der Dimensionen Einkommen, Arbeit, Wohnraum und berufliche Bildung eine Unterversorgung auf...Gegenüber dem Westen mit 35,5 Prozent waren es im Osten 40,3 Prozent...Der Definition von Armut als Kumulation von mindestens zwei Unterversorgungslagen folgend, waren 1992 in Deutschland 7,0 Prozent der Bevölkerung von kumulierter Armut betroffen - 7,3 rozent im Westen und 10,3 Prozent im Osten" (Hanesch u.a. 1994, S.177).

. Die Folgen der neokonservativen Sozialdemontage können in besonders krasser Form am Beispiel der USA demonstriert werden: "Zwischen 1981 und 1992 sanken die Bundesausgaben für sozialen Wohnungsbau (von dem Schwarze überproportional profitiert hatten) um 82%, die für Ausbildungs-, Umschulungs- und Beschäftigungsprogramme um 63%, die für Stadtteil- und soziale Dienstleistungen...um 40%" (Mayer 1992, S.328). Anderseits teilte der Bildungsminister der Clinton-Administration, Riley, als Ergebnis einer Untersuchung mit, "daß 21 bis 23 Prozent der erwachsenen Amerikaner, also 40 bis 44 Millionen Menschen, nicht oder kaum lesen und schreiben könnten und nicht in der Lage seien, ihren Kontoauszug nachzurechnen. Weitere rund 50 Millionen der 191 Millionen Bürger über 16 Jahren liegen beim Lesen und Schreiben kaum über den Analphabetenniveau, schaffen aber den Kontotest" (Neue Osnabrücker Zeitung vom 10.09.1993, S.6).

. "Im Postdienst sind inzwischen 70 Prozent aller Beschäftigten Teilzeitarbeitskräfte. Es gibt mittlerweile 2,3 Millionen geringfügig Beschäftigte ohne Ansprüche auf die Transferleistungen der Sozialversicherung. In der Landwirtschaft und im Baugewerbe stabilisieren sich unterentlohnte Saison- und Wanderarbeitsverhältnisse" (Teil II, S.10). Zur Kategorie der neuen "selbständigen ArbeiterInnen" zählen nach Roth jene LKW-Fahrer, die als Subunternehmer der Speditionen schuften. Ihre Zahl sei nach dem Anschluß der DDR von 30.000 auf 70.000 gestiegen. Ferner werden jene ehemaligen, mittlerweile "freigesetzten", EDV-Mitarbeiter von Großunternehmen angeführt, die nun als PC-TexterfasserInnen, Software-Verkäufer und Informatikberater existieren und deren Umfang sich inzwischen auf ca. 300.000 selbständige Arbeiter beläuft. "Hinzu kommen 15.000 Stadtkurierdienste, wahrscheinlich ebensoviele Kleingutzusteller, eine gewaltig gestiegene Zahl von Taxifahrern und von neuen Selbständigen der Ausländercommunities" (ebenda). Wo sich hier allerdings eine lage- und mentalitätsbezogene Homogenisierungs- und Nivellierungstendenz Bahn brechen soll, bleibt Roths Geheimnis.

. Nur in Anbetracht der Dominanz des "homogenen" Begriffs der Arbeiterklasse konnte sich der einfach-negatorische Mythos vom Verschwinden der Arbeiterklasse ausbreiten. Angesichts dieser irreführenden Alternative ist festzustellen: Nicht die Arbeiterklasse verschwindet, sondern ihre - ehemals fraglos vorausgesetzte - lage und mentalitätsbezogene Homogenität. . Die Rede vom "Postfordimus" suggeriert die bereits vollzogene Etablierung eines eigengesetzlichen, klar abgegrenzten Regulierungsmodells. Politisch-praktisch ist dadegen aber eine regulatorische Diffusion bzw. Flickschusterei zu konstatieren.

. Ungeklärt bleibt hier nach wie vor der folgende "handlungstheoretische" Widerspruch, den Müller (1992, S.210) im Anschluß an Lockwood folgendermaßen umreißt: "Kapitalistisches Handeln ist auf die rationale Verfolgung intrasystemischer Interessen wie Kapitalakkumulation und Profit gerichtet...Proletarisches Handeln hingegen ist ambivalent und inkonsistent: einerseits ist es intrasystemisch auf höhere Löhne und den Abbau von Wettbewerb zwischen Arbeitern durch gewerkschaftliche Organisation gerichtet; andererseits soll es extrasystemisch nicht auf höhere Löhne, sondern auf die Abschaffung des kapitalistischen Lohnsystems via proletarischer Revolution selbst zielen. Wie kann man sich diesen "end-shift" oder Zielwandel des Proletariats erklären? In der marxistischen Theorietradition gibt es darauf keine eindeutige Antwort, sondern eine Fülle unvereinbarer Vorschläge." Daß Müller im folgenden die diesbezüglichen marxistischen Erklärungsvarianten verkürzt darstellt und wesentliche Teile der diesbezüglichen Diskussion ignoriert, ändert nichts am Tatbestand des Erklärungsdefizits der traditionalistischen Subjektauffasung.

.So ist auch die Meinung geäußert worden, das 52. Kapitel wäre keine "Klassensoziologie" geworden, "wie jene Kritiker vermuten, die stereotyp wiederholen, dieses Kapitel sei leider unvollendet geblieben - die Klassentheorie ist vielmehr in den "Kapital"-Büchern entfaltet -, sondern eine historische Beschreibung der tatsächlichen Klassenkämpfe, die auf den Untergang des Kapitalismus hinzielen...Daß das 52. Kapitel fragmentarisch geblieben ist, scheint weniger wissenschaftlichen oder lebensgeschichtlichen Schwierigkeiten geschuldet zu sein, als der historischen Entwicklungsstufe der Arbeiterbewegung" (Mauke 1977, S.68).

. "Braucht der Arbeiter alle seine Zeit, um die zur Erhaltung seiner selbst und seiner Race nötigen Lebensmittel zu produzieren, so bleibt ihm keine Zeit, um unentgeltlich für dritte Personen zu arbeiten. Ohne einen gewissen Produktivitätsgrad der Arbeit keine solche disponible Zeit für den Arbeiter, ohne solche überschüssige Zeit keine Mehrarbeit und daher keine Kapitalisten, aber auch keine Sklavenhalter, keine Feudalbarone, in einem Wort keine Großbesitzerklasse" (Marx 1976, S.534).

. Nicht näher erörtert, aber zumindest angesprochen werden soll die Kontroverse um den Status vorkapitalistischer antagonistischer Verhältnisse. Mit Verweis auf die Spezifika der feudalen Ständegesellschaft (autoritative Zuteilung der Arbeit, geburtsrechtliche Stellung, persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, Verschmelzung von ökonomischer und politischer Macht, lokale und agrarische Verankerung der feudalen Wirtschaft) und zwecks deutlicher Unterscheidung zwischen "Stand" und "Klasse" bzw. "ständischer Gesellschaft" und "Klassengesellschaft" verwirft Giddens (1984, S.100) einen "allgemeinen" Klassenbegriff: "Klassen treten nur dann auf, wenn die zuvor aufgeführten Merkmale des Feudalismus ins Wanken geraten oder aufgelöst sind." Die Kontraposition vertritt Mauke (1977, S.15): "Sobald das Mehrprodukt in der Form exklusiven Eigentums usurpiert wird, strukturiert sich die Gesellschaft in Klassen. Aus dem je eine Epoche bestimmenden Eigentumsverhältnis, dem Mehrprodukt in bestimmter Privateigentumsform, leitet sich jeweils die grundlegende Klassenstruktur ab: das Mehrprodukt wird von einer herrschenden Klasse direkt oder indirekt angeeignet, akkumuliert, verteilt und - produktiv oder parasitär - konsumiert; es wird einer unterdrückten Klasse von unmittelbaren Produzenten - je nach dem Grad ihrer Unterdrückung und Ausbeutung - vom Arbeitsergebnis abgezogen."

. D.h. der Kapitalverwertungsprozeß in seiner sich permanent selbsterneuernden Totalität (Produktion, Distribution, Zirkulation, Konsumtion) strukturiert und gestaltet nicht nur fortlaufend die Klassenverhältnisse, sondern modifiziert in systemspezifischer (verwertungsadäquater) Weise auch die historisch vorgefundenen zwischengeschlechtlichen und ethnischen Disparitäten.

. Als gegenwärtigen Trend konstatiert Boyer (1992, S.67) auf der Grundlagen von fünf Länderstudien "den absoluten oder relativen Abbau von Arbeitsplätzen mit niedrigen Qualifikationsanforderungen und große Zuwächse bei Beschäftigungen mit mittleren und hohen Anforderungen. Dieser langfristige Trend wird für flexible und computerintegrierte Fertigungssysteme noch verstärkt."

. "Die mittlere Intensität der Arbeit wechselt von Land zu Land; sie ist hier größer, dort kleiner. Diese nationalen Durchschnitte bilden also eine Stufenleiter, deren Maßeinheit die Durchschnittseinheit der universellen Arbeit ist. Verglichen mit der weniger intensiven, produziert also die intensivere nationale Arbeit in gleicher Zeit mehr Wert, der sich in mehr Geld ausdrückt" (Marx 1976, S.584).

. Ein relativ aktueller Trend z.B. in den USA zeigte, "daß von allen neuen Arbeitsstellen zwischen 1987 und 1989 76% auf die Dienstleistungsindustrie entfallen, 34% auf relativ hochbezahlte Sektoren - größtenteils im Finanz- und Versicherungsbereich sowie in der Immobilienbranche. Niedrig bezahlte Dienstleistungen in Einzelhandels-, Reparatur-, Unterhaltungs- und Freizeitberufen machten 42% aller neu geschaffenen Arbeitsplätze aus" (O'Connor 1992, S.465).

. "Rascheres Wachstum der Produktionsmittel und der Produktivität der Arbeit als der produktiven Bevölkerung drückt sich kapitalistisch also umgekehrt darin aus, daß die Arbeiterbevölkerung stets rascher wächst als das Verwertungsbedürfnis des Kapitals" (Marx 1976, S.674).

. Giddens hat (1983, S. 19/20.) gegenüber Marshall, der eine evolutionäre und irreversible Entwicklung der Bürgerrechte behauptet, und jenen marxistischen Autoren, die Bürgerrechte ausschließlich manipulationstheoretisch deuten, zutreffend folgendes hervorgehoben: "Meines Erachtens messen beide Deutungen der Tatsache zu wenig Gewicht bei, daß die Bürgerrechte zum großen Teil nur durch Kampf erreicht worden sind...Das allgemeine Wahlrecht war zum Beispiel ein Prinzip, gegen das von Seiten der herrschenden Kreise zäher Widerstand geleistet wurde, sowohl gegen das Stimmrecht der männlichen Arbeiterschaft als auch gegen das Frauenstimmrecht. Es ist sicherlich kein Zufall, daß das allgemeine Wahlrecht in verschiedenen europäischen Ländern erst im Schatten des 1. Weltkrieges erreicht wurde...Die 'ökonomischen Rechte' mußten zum großen Teil von der Arbeiterklasse gegen den Widerstand der Arbeitgeber und des Staates erkämpft werden. Das Recht, überhaupt Gewerkschaften bilden zu dürfen, wurde gemeinhin sicherlich nicht gnädig gewährt, sondern nur mit Hilfe erbitterter Kämpfe errungen und aufrechterhalten. Das gleiche gilt für die Versuche der Gewerkschaften, reguläre Verhandlungsverfahren zu institutionalisieren und ihre Interessen durch Streiks zu vertreten."

. So wird die Bedeutung des Marxschen Klassenkonzepts von "aufgeklärteren" Vertretern der nichtmarxistischen soziologischen Ungleichheitsforschung durchaus betont. Wie Kreckel (1990, S.59f.) hervorhebt, "kommt dem asymmetrischen Spannungsverhältnis von Lohnarbeit und Kapital als primärem Machtgefälle innerhalb und außerhalb des kapitalistischen Arbeitsmarktes noch immer ein überragendes Gewicht zu. Der strukturelle Zwang zur Profitorientierung, gekoppelt mit der privaten Verfügung über Produktionsmittel und der Tendenz zur Kapitalkonzentration, fungiert weiterhin als wirksamer Hebel. Das heißt, das abstrakte Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit als strukturelle Bedingung besteht, trotz mancherlei Veränderungen, weiterhin fort, während gleichzeitig die diesem Klassenverhältnis entsprechenden konkreten empirischen Klassen teilweise verwischt, ausdifferenziert und überlagert worden sind, so daß sich ihr Einfluß auf das alltägliche Handeln und Erleben vermindert hat."

. An anderer Stelle reflektiert Marx den vielschichtigen Charakter der internen Konkurrenzverhältnisse der Arbeiter- klasse: "Von 1000 Arbeitern von gleicher Geschicklichkeit bestimmen den Arbeitslohn nicht die 950 beschäftigten, sondern die 50 unbeschäftigten. Einfluß der Irländer auf die Lage der englischen Arbeiter und der deutschen auf die Elsässer Arbeiter...Die Arbeiter machen sich Konkurrenz, nicht nur, indem einer sich wohlfeiler anbietet als der andre, sondern indem einer für zwei arbeitet. Vorteile des unverheirateten Arbeiters über den verheirateten usw. Konkurrenz unter den Arbeitern vom Land und den Städten" (MEW 6, S.542). Diese Einsichten widersprechen aber sowohl der Homogenitätsauffasung als auch einer "linearen" Formierungsprognose.

. So vermerkt Engels in einem Brief an Mehring selbstkritisch: "Sonst fehlt nur noch ein Punkt, der aber auch in den Sachen von Marx und mir regelmäßig nicht genug hervorgehoben ist und in Beziehung auf den uns alle gleiche Schuld trifft. Nämlich wir alle haben zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen. Dabei haben wir dann die formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen etc. zustande kommen" (zit. n. Thomas 1990, S.110).



click here to return to the Materials and Publications index


Produced and Hosted by the Center for Digital Discourse and Culture     © Center for Digital Discourse and Culture, Virginia Tech. All rights reserved. The physical campus is in Blacksburg, Virginia, U.S.A. For more information, please contact the Center at cddc@vt.edu